Der König der Berge heißt Carapaz
Knapp zwei Wochen vor dem Grand Départ stand die Saison von Richard Carapaz vor dem Aus. Jetzt hat er das Bergtrikot gewonnen und wurde bei der Tour de France 2024 als aktivster Fahrer ausgezeichnet.
Für alle Zuschauer und alle Beteiligten war die Tour de France 2024 ein denkwürdiges Ereignis. Und für das Team EF Education First–EasyPost wird sie als außergewöhnlich in die Annalen eingehen. Vor allem für einen Fahrer könnte es sprichwörtlich die Krönung seiner bisherigen Karriere sein.
Von der brutalen Hitze der 1. Etappe in der Toskana bis zum Ende der 21. Etappe in Nizza erweckte Richard Carapaz immer den Eindruck, als würde er nie einen Gang zurückschalten. In dieser Zeit hat er im Sattel seines LAB71 SuperSix EVO Geschichte geschrieben: der erste Radrennfahrer, der bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille im Straßenradrennen holte und bei allen drei großen Rundfahrten eine Etappe gewann, der erste Ecuadorianer, der das Gelbe Trikot des Führenden der Tour trug (von Pinerolo nach Valloire), der erste Ecuadorianer, der eine Etappe gewann (17. Etappe: Saint-Paul-Trois-Châteaux>Superdévoluy), der erste Ecuadorianer, der das rot-gepunktete Trikot des Bergkönigs der Tour trug – und gewann – sowie der erste Ecuadorianer, der die Auszeichnung für den aktivsten Fahrer bei der Tour erhielt.
Doch betrachten wir die beiden letzten Erfolge etwas genauer.
Die Tour feiert nicht nur den schnellsten Fahrer im Peloton. Die Gesamtzeit der Fahrer hängt auch von den Punkten ab, die sie an den vielen Anstiegen und in den zahlreichen Sprints der Tour sammeln können. Wenn ein Fahrer die Gipfel verschiedener Anstiege oder die Ziellinie bei Zwischensprints als erster überquert, kann dieser bis zu 50 Punkte erhalten. Ein muskulöser Sprinter oder ein schlanker Kletterer hat nach drei Rennwochen vielleicht nicht die schnellste Gesamtzeit, aber mit strategisch getimten Kraftanstrengungen, einem starken Team um ihn herum und unglaublicher Geschwindigkeit kann er beweisen, dass er der Beste in seiner Disziplin ist.
Und was Richard Carapaz am besten kann, ist der Schwerkraft zu trotzen. Im Sattel seines LAB71 SuperSix EVO, sammelte er in den letzten drei Wochen 127 Bergpunkte, das sind 25 mehr als der nächstbeste Kletterspezialist in der diesjährigen Rangliste.
Wenn ein Fahrer in der Bergwertung vorne liegt, darf er das berühmte rot-gepunktete Trikot tragen, bis ihn jemand anderes in der Wertung überholt. Auf den letzten Etappen der Tour wollte Richard trotz der starken Herausforderer einfach nicht lockerlassen. Er schlüpfte auf der 19. Etappe (Embrun>Isola) ins Bergtrikot und zog es bis zur Siegerehrung in Nizza nicht mehr aus.
Dabei führte er nicht nur das Peloton die Anstiege hinauf, sondern unterstrich auch den Ruf Ecuadors als Radsportnation und machte das Land zu dem, was es im letzten Jahrzehnt geworden ist: eine aufstrebende Talentschmiede für den Radsport, zu der auch Jhonatan Narváez, Byron Guamá und Jonathan Caicedo gehören.
„Es gibt nicht viele [Ecuadorianer] in der WorldTour und ich hoffe, dass der Radsport in meinem Land damit vorangebracht wird“, erklärte Carapaz, nachdem er als erster Ecuadorianer überhaupt nach der 3. Etappe das Gelbe Trikot überziehen durfte. Da ahnte er noch nicht, wie gut er in den kommenden Wochen performen würde.
Das Sahnehäubchen ist seine Auszeichnung zum aktivsten Fahrer der Tour de France 2024. Die Auszeichnung wird von einer von der Tour eingesetzten Jury vergeben und geht an den Fahrer, der als der angriffslustigste der gesamten Rundfahrt gilt und die meiste Zeit in Ausreißergruppen an der Spitze des Feldes verbringt. Dies ist zwar schwer zu ermitteln, findet aber sowohl bei den Radsportfans als auch bei Richards Gegnern große Anerkennung. Diese Auszeichnung stellt eindeutig fest: “Dieser Kerl war unnachgiebig.”
Doch zwei Wochen vor Beginn der Tour sah es so aus, als sei ein Nachgeben unvermeidlich. Richard war bei der Tour de Suisse gestürzt und kurz darauf schwer erkrankt. Die restliche Saison war plötzlich ungewiss – ein Umstand, der bei ihm und dem gesamten Team EF Education–EasyPost böse Erinnerung an die Tour de France 2023 weckte, als diese für ihn nach einem schrecklichen Sturz bereits am ersten Tag beendet war. So wie seine Räder weggerissen wurden, so wurde auch sein wichtigstes Ereignis der Saison zunichte gemacht. Sollte 2024 ähnlich verlaufen?
Nein. Bislang war es wohl Richards beste Tour überhaupt, was bei seinem beeindruckenden Lebenslauf schon viel aussagt. Auch für EF Pro Cycling war es eine grandiose Tour, bei der sich Richards Unnachgiebigkeit trotz einiger Schwierigkeiten auszahlte. Ein Trikot bei der Tour war nie ganz außer Reichweite, wurde aber bisher noch nie erreicht. Das hat sich dieses Jahr geändert.
Richard Carapaz, der auch „El Jaguar de Tulcán“ genannt wird, hat sich nun endlich seinen Platz an der Spitze verdient.